Interview: 4-Tage-Woche bedeutet nicht Abkehr von Arbeitsmoral
Die Jugend steckt in der Krise. Wirtschaftliche und soziale Sorge macht sich breit. In Zeiten von Krieg, Inflation und Klimawandel hat sich ein großer Schatten auf die jugendliche Seele gelegt. Die dbb jugend nrw will wissen: Wer ist besonders betroffen und was kann jetzt helfen? Jugendforscher Klaus Hurrelmann gibt Antworten.
Es ist ein Gesamtdilemma – ausgelöst durch die Corona-Pandemie und fortgesponnen durch Inflation, den Angriffskrieg auf die Ukraine, die Nahost-Krise und die Klimafrage. Gibt es innerhalb der wenig optimistisch gestimmten Generation Z eine Gruppe, die Ihnen besonders Sorgen bereitet?
Klaus Hurrelmann: Definitiv! Neben den 75 Prozent der jungen Menschen, die gut ausgebildet einigermaßen gut durchgekommen sind, gibt es eine Gruppe von rund 25 Prozent, über die wir gesondert sprechen müssen. Diese jungen Leute stehen schulisch nicht so gut da. Sie sind durch das Aussetzen der schulischen und beruflichen Ausbildungsphasen während der Pandemie ganz stark aus dem Rhythmus gebracht worden und haben diesen auch nicht wiedergefunden. Sie sind zurecht pessimistisch, wie es für sie weitergeht in Ausbildung und Beruf.
Diese Jugendlichen kommen nicht selbstverständlich in einen Arbeitsplatz, da sie über ganz schlechte Voraussetzungen verfügen. Das sind junge Leute – zu weit mehr als 60 Prozent junge Männer – die über sich selbst gestolpert sind und die keine klare Perspektive bezüglich ihres weiteren Lebensverlaufs haben. Da müssen wir uns wirklich Gedanken und Sorgen machen. Die Anzahl derer, die im Moment wirklich kaum berufstauglich sind und ganz, ganz schlechte Berufsaussichten mitbringen, dennoch aber wie ihre gut ausgebildeten Altersgenossen mit hohen Erwartungen in den Beruf gehen, ist hoch. Hier muss etwas geschehen.
Was konkret kann diesen Jugendlichen helfen?
Hier müssen wir geschultes Personal haben, das auf sie eingeht. Sie brauchen viel Unterstützung und Lotsenangebote – Coaching, denn diese Jugendlichen müssen zum Teil viel nachholen.
Wenn ein Unternehmen die Kraft hat, das zu tun, dann kann es erleben, dass es sehr treue und sehr dankbare Mitarbeiter hat. Denn das sind zum Teil junge Leute, die haben jahrelang nicht erlebt, dass sich jemand für sie interessiert, um sie bemüht und kümmert.
Das ist ein Ansatzpunkt für Akteure im Bildungswesen. Wir selbst bieten als Jugenddachverband Workshops in Sachen Resilienzstärkung, Bewerbungstraining oder Konfliktbewältigung an. Was für Angebote brauchen junge Menschen genau jetzt?
Wir brauchen genau solche Angebote, wie sie sie gerade beschreiben. Junge Menschen brauchen das Gefühl: Hier kümmert sich ein Verband oder Unternehmen um mich, mit meinem Profil und meinen Interessen. Ich werde ernst genommen. Es wird mit mir gemeinsam gearbeitet. Es wird eine Potenzialanalyse erstellt – wo liegen meine Stärken und Schwächen? Ich bekomme ein gezieltes Angebot für Weiterbildung. Ich bekomme Angebote hier und da schon mal ein Praktikum zu machen. Dann lassen sich auch diese Schwächen überwinden, von denen wir gerade sprachen. Das setzt voraus, dass diese jungen Menschen Leidenschaft gewinnen und feststellen: Die wollen mich. Die glauben an mich. Diese Erfahrung setzt natürlich ganz andere Kräfte frei. Das wäre das Geheimrezept, das man Unternehmen in die Hand drücken sollte, um zu gutem Personal zu kommen.
Sie sprachen davon, dass viel über junge Leute aber nicht mit ihnen geredet wurde. In diesem Zusammenhang ist „Selbstwirksamkeit“ ist ein großes Thema. Wie ist da die Chance für das Ehrenamt? Denn da kann man ja selbstwirksam tätig sein.
Selbstwirksamkeit ist wirklich ein großes Thema. Wir haben ein Unwohlgefühl in der jungen Generation, weil sie vermissen, Einfluss auf ihre Lebensbedingungen zu haben. Schon während der Corona-Pandemie ging es bei den jungen Menschen um Ohnmacht und Kontrollverlust. Sie konnten nicht über die eigene Situation bestimmen. In der Öffentlichkeit wurde über sie geredet, nicht mit ihnen. Das hat dieses Gefühl noch verstärkt.
Wir Forscherinnen und Forscher hatten gedacht, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist, baut sich dieses Gefühl wieder ab: unsicher, hilflos, ein bisschen depressiv zu sein. Ein bisschen aggressiv und zu merken, dass man sein Leben nicht selbst bestimmen kann und einfach unsicher ist, wie es weiter geht. Aber dieses Gefühl hat sich nicht verändert. Die jungen Menschen sind in der Stimmung von Hilflosigkeit, Gereiztheit, Ohnmacht hängen geblieben.
Ja, aber folgt daraus etwas?
Die Bereitschaft, daraus die Konsequenz zu ziehen und zu sagen: Ich engagiere mich, gerade weil ich dieses Erlebnis hatte. Ich will aktiv sein und mich einbringen und gestalten. Diese Bereitschaft ist da, aber sie ist ein bisschen verschüttet worden durch die Kaskade von Erlebnissen, dass man sich nicht selbst entfalten kann und dem damit verbundenen Kontrollverlust.
Ich denke aber, wenn die jungen Leute gut angesprochen werden und wenn um sie geworben wird, klare und transparente Angebote gemacht werden, dass man sie dafür tatsächlich gewinnen kann. Sie sind gebrannte Kinder, sie haben erlebt, was es bedeutet, einen Kontrollverlust zu haben und in ein Ohnmachtsgefühl hineinzurutschen. Sie wollen wieder Selbststeuerungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit erlangen. Ob sie es ganz alleine tun können, ist die große Frage. Alles was an Hilfe und Unterstützung nötig ist, ist im Moment zu aktivieren und dann sehe ich die Chance, dass diese Generation zu gewinnen ist für Engagement und freiwillige Tätigkeit.
Jugendliche sind in Sorge um den Wohlstand in unserem Land und haben die Befürchtung, dass sie das wirtschaftlich-finanzielle Niveau ihrer Eltern nicht mehr erreichen zu können. Wie passt das zusammen mit Forderungen nach ausgeprägter Work-Life-Balance und Vorstellungen einer 4-Tage-Woche, denn am Ende muss Wohlstand ja auch erwirtschaftet werden?
Ja, das sind Punkte, die von der jungen Genreration ganz anders eingeschätzt werden. Sie haben im Vordergrund die Vorstellung, sich in der Berufswelt wohlfühlen zu wollen. Sie möchten auf einer sicheren persönlichen Basis agieren und die Gewissheit haben, dass sie einen interessanten und gut sortierten Arbeitsplatz haben. Das steht für sie absolut im Vordergrund. Der Wunsch nach einer 4-Tage-Woche, der für junge Leute symbolisch zum Ausdruck bringt: Ich will mich nicht beruflich nicht kaputt machen, drückt das auch aus.
Aber es wäre völlig falsch verstanden, wenn man das als die Abkehr von der Arbeitsmoral bewertet. Es ist die Abwägung: Ich will berufstätig sein, ich habe aber in den letzten Jahren gelernt, wie wichtig es ist, dass ich handlungsfähig, autark und psychisch gesund bleibe. Und aus diesem Grund will ich im Arbeitsprozess immer im Takt mit meinen eigenen Kräften und Fähigkeiten bleiben. So ist das zu interpretieren.
Genau das erklären wir derzeit Personalverantwortlichen und privaten Unternehmen. Da gibt es Missverständnisse. Wenn man das versteht, kann man sinnvoll ansetzen und den jungen Menschen versuchen, Perspektiven zu zeigen und sie aus ihrer beinahe pessimistischen Haltung herauszubringen.
→ Mehr darüber, wie Jugendliche ihre Zukunft sehen, was sie umtreibt und warum Politik und Arbeitgeber das auf dem Schirm haben sollten, erfahrt ihr in Teil 1 des Interviews.
Zur Person:
Klaus Hurrelmann ist bekannter Jugendforscher in Deutschland. Er ist Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler und seit 2009 Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Er führt vergleichende Studien zur Einstellung, Werteorientierung und zum Verhalten von Jugendlichen durch. Hierzu zählen die Shell Jugendstudien sowie die Trendstudien „Jugend in Deutschland“. Die dbb jugend nrw führte bereits mehrere Interviews mit dem Jugendforscher.