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Übergriffe sorgen für immer weniger Bürgermeisterkandidaturen

Gewalt gegen Beschäftigte
17. Mai 2024

2024 ist Superwahljahr: Neben der Europawahl finden in acht Bundesländern auch Kommunalwahlen statt. Doch die Situation ist dramatisch: 500 bis 600 Bürgermeisterpositionen bleiben womöglich unbesetzt. Ein Trend, der auch in NRW im nächsten Jahr absehbar ist. Was sind die Gründe?

Anfang März gab Michael Stolze, Bürgermeister von Markt Schwaben, seinen Rücktritt bekannt. Ende Mai hängt er sein Amt als erster Bürger an den Nagel. Auch wenn der bayerische Ort Markt Schwaben mehr als 600 Kilometer von NRW entfernt liegt – das Problem, das dort sichtbar wird, ist auch in vielen Kommunen NRWs offenkundig. Es ist sogar ein bundesweites Problem. Immer mehr Bürgermeisterpositionen bleiben unbesetzt. Von 500 bis 600 ist im Superwahljahr die Rede. Allein in Rheinland-Pfalz könnten es laut Einschätzung des Verwaltungsmagazin „kommunal“ rund 450 sein.

Einer der Gründe: „Respekt und Anstand gehen verloren“, wie es Stolze in einem Interview formuliert. Aktuell zeigt sich dies an einer Diskussion rund um eine Flüchtlingsunterkunft und damit einhergehende Beschimpfungen. Das Phänomen ist für Stolze ein wiederkehrendes. Erst im Dezember seien er wie auch die Mitarbeiter des Bauhofs wüst beschimpft worden, nachdem sie alles daran gesetzt hatten, nach plötzlichem Schneefall möglichst viele Straßen von Schnee zu befreien. Sie schafften nicht alle Nebenstraßen bis zum nächsten Morgen und mussten für ihre unermüdliche Arbeit üble Schelte einstecken.

Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs über das Thema „Gewalt“, um es im Bewusstsein der Bevölkerung zu halten

Susanne AumannVorsitzende dbb jugend nrw

Das Klima hat sich insgesamt verschärft: Dem SPD-Politiker Matthias Ecke wird in Dresden von einem Jugendlichen das Jochbein gebrochen, die Grünen-Lokalpolitikerin Yvonne Mosler bedrängt, bedroht und bespuckt. Die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) in einer Bibliothek tätlich angegriffen und verletzt, ein AfD-Landtagsabgeordneter im niedersächsischen Nordhorn an einem Infostand mit Eiern beworfen und ins Gesicht geschlagen. Dies sind weitere drastische Beispiele von Attacken gegen politisch aktive Personen aus jüngster Vergangenheit.

„Wir beobachten das Phänomen der Übergriffe auf Menschen im Öffentlichen Dienst sowie speziell auf Amtsträgerinnen und Amtsträger schon lange“, sagt Susanne Aumann, Vorsitzende der Deutschen Beamtenbund-Jugend NRW (dbb jugend nrw). Persönlich berichtete beispielsweise Erik Lierenfeld, Bürgermeister der Stadt Dormagen, über Bedrohungen und sogar Morddrohungen gegen ihn.

Jede zweite Amtsperson auf kommunalpolitischer Ebene wurde schon einmal zum Opfer von Hass, Hetze und Gewalt, wie aus verschiedenen Studien hervorgeht. Erfasst wurden alle haupt- und ehrenamtlichen Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sowie Landrätinnen und Landräte.

Das Kommunale Monitoring (KoMo) aus dem Jahr 2022 kommt zu dem Ergebnis, dass 45 Prozent der befragten Amtspersonen bereits angegriffen wurden. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa kommt laut einer Umfrage aus dem Jahr 2021 auf 57 Prozent und das Verwaltungsmagazin „kommunal“ kommt 2020 auf 64 Prozent. 1.674 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger zählt das Bundesinnenministerium im Jahr 2019. Auch eine neue Umfrage, die der Sender SWR durchgeführt hat, kommt zu erschreckenden Ergebnissen: Jeder vierte Bürgermeister überlegt, ob er noch weitermacht und erneut zur Wahl antritt. Der Frust sitzt tief.

Bei der Umfrage des SWR, an der sich mehr als 600 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister beteiligten, wird auch das Anspruchsdenken vieler Bürger thematisiert. 18 Prozent der Befragten geben an, dass sie zu wenig Respekt erfahren. Manche der Befragten berichten in diesem Zusammenhang auch von Beleidigungen und Angriffen.

Vom Shitstorm bis zur digitalen Hetzjagd

Bürgermeister berichten über eine gefährliche Mischung aus Anspruchsdenken und Verrohung der Sprache. Falsch berechnete Gebührenbescheide führen gleicht zu einem Shitstorm und einer digitalen Hetzjagd.

Dieses Problem ist bundesweit zu beobachten. Auch aus anderen Ländern melden sich die Amtsträger zu Wort und schildern, dass Anfeindungen bis zu Aufmärschen vor der privaten Haustür reichen. In den sozialen Medien fielen die Hemmungen manchmal vollkommen, sagt auch Thüringens Innenminister Gregor Maier in einem Interview mit der Wirtschaftswoche.

Kaum zu bewältigende Anforderungen an Bürgermeister

Gründe sind häufig: Die immense Belastung sowie die schwierige Haushaltssituation. Kommunen bekommen immer mehr Aufgaben übertragen, befinden sich aber meist ohnehin schon im Nothaushalt. Da werden Kita-Ausbauten und Unterhalt beispielsweise zur fast nicht meisterbaren Herausforderung. Rund 38 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister geben bei der Umfrage des SWR an, es fehle ihnen an Unterstützung durch die Verbandsgemeinde, den Kreis sowie die Landesregierung. Hinzu komme ein wachsender Bürokratiewahnsinn vermengt mit fehlenden Entscheidungsbefugnissen und kurzen Entscheidungswegen.

„Besonders drastisch ist, dass es selbst gegen Ehrenamtliche derart massive Anfeindungen gibt“, stellt Aumann heraus. Es fehle einfach an Wertschätzung diesen Ämtern gegenüber. Darum sei es unerlässlich, Hass und Hetze konsequent zur Anzeige zu bringen, so die Vorsitzende der dbb jugend nrw. „Dies sollten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu ihrem eigenen Wohl ebenso wie zum Wohl ihrer Mitarbeitenden tun“, sagt Aumann. Nur so könne man ein Aufhorchen und Umdenken in der Gesellschaft in Gang bringen. „Wir brauchen also weiterhin den öffentlichen Diskurs darüber, um das Thema in den Köpfen zu halten und etwas zu erreichen.“ Wenn das nicht gelinge, werde man nicht nur bei den Wahlen in diesem Jahr viele Kommunen haben, in denen sich niemand mehr für das Amt des Bürgermeisters zur Verfügung stellen will.

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