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75 Jahre Grundgesetz – ein Provisorium von ewiger Dauer

Gesellschaftspolitik
15. April 2024

Eigentlich war es nicht mehr und nicht weniger als ein Provisorium, das nach einem Abschnitt furchtbarster deutscher Geschichte einen neuen, demokratisch begründeten Auftakt geben sollte. Heute ist das Grundgesetz mit 75 Jahren die älteste noch gültige Staatsverfassung der Welt. Zeit, einen Blick zurück zu werfen, auf Zeitgeschichte und überraschende Fakten.

Man könnte es eine steile Karriere nennen: Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat unterzeichnet wurde, war es nicht mehr und weniger als ein Provisorium, ein „Bauriss für einen Notbau“, wie es der Vorsitzende der SPD-Fraktion und spätere Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid bezeichnete. Eine vorläufige Verfassung also, die nach Zeiten des Völkermords und der Nazidiktatur einen neuen Auftakt geben sollte. Demokratisch und rechtsstaatlich begründet und mit seinen 146 Artikeln so etwas wie eine Betriebsanleitung für die Demokratie. Sie sollte gelten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die sowjetische Besatzungszone wieder mit der Westzone vereinigt sein würde.

Als es jedoch so weit war und nach der Widervereinigung die ostdeutschen Länder gefragt waren, erkannten sie das Grundgesetz als Verfassung an. Das, was also die vier Frauen und 61 Männer des Parlamentarischen Rates 1949 unterzeichnet hatten, wurde zur gemeinsamen Verfassung im vereinigten Deutschland. Nix Provisorium. Das Grundgesetz hat sich demnach als solide Grundordnung erwiesen und ist dennoch immer mit der Zeit gegangen.

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Überraschend

So einvernehmlich und einstimmig, wie sich die Geschichte der deutschen Verfassung liest, war sie jedoch nicht. Sie war von Beginn an bewegt und heiß diskutiert: Zwölf Nein-Stimmen gab es bei der Abstimmung 1949. Auch nicht alle Länderparlamente stimmten für das Grundgesetz. In Bayern stimmten nach 15-stündiger Debatte 101 von 174 Abgeordneten gegen die neue Verfassung. Vor allem die CSU befürchtete, der Einfluss des Bundes auf die Länder könne zu groß sein. Doch hat sich aus Sicht der Vorsitzenden der Deutschen Beamtenbund-Jugend NRW (dbb jugend nrw) Susanne Aumann das Grundgesetz in 75 Jahren gerade wegen des föderalistischen Gedankens bewährt. Es gebe eine effektive Balance zwischen zentralisierter und dezentralisierter Regierungsführung. Zudem ermögliche das föderalistische Prinzip verschiedenen Regionen, unterschiedliche Gesetze und Politikstrategien nach spezifischen Bedürfnissen und kulturellen Unterschieden zu erlassen.
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Unbekannt

Das Saarland erklärte erst im Dezember 1956 den Beitritt zum Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes und erkannte dieses, wie 1990 auch die Länder der ehemaligen DDR, an. Zeitgleich wurde gesetzlich die saarländische Staatsangehörigkeit, die es bis dahin gab, abgeschafft. Diese Sonderstellung hatte das Saarland durch die ursprünglich französische Besetzung inne, nach der es schließlich Autonomiestatus bekam – bis es der Bundesrepublik Deutschland beitrat.
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Beachtlich

Das Grundgesetz wurde mit 146 Artikeln verabschiedet und hat bis heute unverändert diese Anzahl. Und das, obwohl es mehr als 60 Änderungen erfahren hat – beispielsweise die Verankerung des Umwelt- und Tierschutzes im Jahr 2002, den Dienst mit der Waffe für Frauen bei der Bundeswehr im Jahr 2000 oder die Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern durch den Staat sowie Benachteiligungsverbot für Behinderte im Jahr 1994.
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Kurios

Was sich heute kaum mehr anders denken lässt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau nämlich, war 1949 ein großer Schritt. Maßgeblich geht dieser Absatz auf den Einsatz der einzigen vier Frauen im damaligen Parlamentarischen Rat zurück: Elisabeth Selbert, Helene Weber, Friederike Nadig und Helene Wessel. Vor allem Elisabeth Selbert (SPD) und Friederike (Frieda) Nadig (SPD) hatten hart dafür gekämpft, dass dieses unanfechtbare Grundrecht in Artikel 3 verankert wurde. Sie setzten ihn gegen den anfänglich heftigen Widerstand auch aus der eigenen Partei durch. Nur deshalb heißt es seit 1949 im Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.
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Zwiespältig

Ausgerechnet die Abschaffung der Todesstrafe, die in Artikel 102 des Grundgesetzes verbrieft ist, heute als humanitäre Zusicherung verstanden wird und als moralische Grundlage des deutschen Staates verstanden wird, ist ihrem Ursprung nach nicht von besonderer Ehrenhaftigkeit geprägt. Der Vorschlag zur Abschaffung der Todesstrafe kam aus einer rechtskonservativen Ecke. Genau genommen von Hans-Christoph Seebohm, dem späteren Bundesverkehrsminister und einem Lager der Deutschen Partei um ihn herum. Ihr Anliegen: Sie wollten die Hinrichtung weiterer NS-Täter vor den Militärgerichten stoppen. Ausgerechnet die Nationalsozialisten aber hatten die Todesstrafe eingeführt und exzessiv praktiziert – auch und gerade gegen politische Gegner. 16.000 Todesurteile wurden in der NS-Zeit gefällt. Carlo Schmid ging es hingegen im Parlamentarischen Rat bei der Abschaffung um ein Bekenntnis der Deutschen zur einer Werteordnung. Seit diesem Beschluss gab es jedoch immer wieder Vorstöße, diesen Artikel, der auch zur Mitgliedschaft im Europarat nötig war, abzuschaffen. Vor allem in emotional geführten Debatten wie beispielsweise nach bestialischen Morden wie denen des pädophil motivierten „Kirmesmörders“ Ende der 1960er Jahre oder nach den politisch motivierten Morden der RAF in den 1970er Jahren, wie der Deutschlandfunk berichtet.
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Bedeutsam

Das Grundgesetz wird oft als eines der fortschrittlichsten und demokratischsten Verfassungsdokumente der Welt betrachtet und hat international Anerkennung gefunden, indem es als Modell für Verfassungen anderer Länder diente.
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Umstritten

Niemand darf laut Artikel 3 des Grundgesetzes unter anderem „wegen seiner Rasse“ diskriminiert werden. Seit langem bewegt diese Begrifflichkeit und die Suche nach alternativen Formulierungen Politik und Recht. Mehrere Bundesländer haben bereits Vorstöße gewagt und den Begriff aus ihren Verfassungen gestrichen. Das im Grundgesetz verbriefte Diskriminierungsverbot operiert jedoch noch mit dem Begriff „Rasse“, um dem Rassismus in Deutschland Einhalt zu gewähren. Deutschsprachige Vertreterinnen und Vertreter der Critical Race Theory befürworten den Begriff, weil es sich um einen bedeutenden identitätspolitischen Begriff handele, der auch international etabliert sei. Erst im Februar 2024 erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, er sei gegen die Streichung, weil das Wort an die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen – „in erster Linie Jüdinnen und Juden“ – wie die Tagesschau mitteilt.

„Allen Diskussionen und Änderungen des Grundgesetzes zum Trotz zeigt sich, dass das vor 75 Jahren gefasste Grundgesetz nicht überholt ist“, sagt Aumann. In diesen Zeiten zeige sich besonders, wie wichtig es sei, die dort verankerten Grundrechte zu schützen und zu verteidigen, denn so betont Aumann: „Letztlich lebt die Demokratie davon, dass wir als Bürgerinnen und Bürger diese Verfassung leben und sie davor schützen, ausgehöhlt oder missachtet zu werden.“

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